Als Betreuerin in einer Ferienfreizeit habe ich neulich ein sechsjähriges Mädchen kennengelernt, dessen obere Schneidezähne etwas vorstehen und einen ungewöhnlich großen Abstand zueinander und auch jeweils zu den Eckzähnen rechts und links haben. Nicht so, dass es ihre Aussprache oder sonst irgendetwas beeinträchtigen würde. Nur so, dass es eben stark auffällt, wenn man sie sieht. Ich muss sagen, mir ist es auch stark aufgefallen, nicht negativ, aber sehr bald, direkt am Anfang, und so habe ich mir schon bei meiner allerersten Begegnung mit dem Kind Gedanken über seine Zähne gemacht: "Sie wird bestimmt mal eine Zahnspange bekommen. Ob andere nicht über ihre Zähne lästern werden, wenn sie etwas älter ist? Ob sie sie selbst unschön finden wird?"
Natürlich habe ich nichts gesagt, und auch sonst waren die Zähne kein Gesprächsthema in der Freizeit. Oft sind wir mit den Kindern in den Wald gegangen, um zu spielen, zu forschen und zu basteln, und einmal haben wir Eichhörnchen beobachtet. Da hat mir das kleine Mädchen gleich erzählt, wie gerne es Eichhörnchen sieht. Bei seinem Opa gäbe es auch viele Eichhörnchen. Außerdem hätte es einen Eichhörnchen-Pulli, und an Fastnacht würde es sich als Eichhörnchen verkleiden. "Ich hab' auch Eichhörnchen-Zähne."
Eichhörnchen-Zähne. Falls in diesem Moment diese Mischung aus Überraschung, Staunen, Erleichterung, und Beschämtheit durch mein Lächeln hindurch schimmerte, wusste sie wahrscheinlich nichts damit anzufangen.
"Solche Zähne entsprechen nicht dem Schönheitsideal.", "Das ist unnormal und in negativer Weise auffallend.", "Es wäre besser, wenn sie anders aussähen." – Auf solche Gedanken war sie wahrscheinlich noch nie gekommen, und es war, als hätte sie gerade so, so deutlich gezeigt, wie unnötig es auch wäre, solche Gedanken zu haben. Ihr selbst gefallen ihre Zähne so, wie sie sind. Sie erfüllen ihren praktischen Zweck, und nicht nur das: sie verbinden das Mädchen sogar mit seinem Lieblingstier, und darauf ist es stolz. Also sind die Zähne doch super! Und zwar genauso, wie sie sind! Warum sollte es irgendeinen Grund geben, sie so nicht zu wollen, nur weil die meisten Leute und außerdem die berühmten Beauties andere Zähne haben?
Das Mädchen selbst sieht keinen Grund dafür, und ich eigentlich auch nicht, aber trotzdem hatte ich bei unserer ersten Begegnung gleich an sowas gedacht: an antizipierte negative Reaktionen der Gesellschaft und an potentielles Unwohlsein damit, selbst anders auszusehen.
Ich glaube, Schönheitsideale können nicht nur (unbewusst) unser eigenes Schönheitsempfinden beeinflussen. Sondern sie führen auch dazu, dass wir beim Anblick einer Person darüber nachdenken, wie schön sie wohl in den Augen der Gesellschaft ist, und ob sie nicht gerne stärker dem Ideal entspräche.
Wenn uns etwas Besonderes an unserem eigenen Aussehen auffällt, denken wir doch oft ungefähr: "Die Leute in Fernsehen und Zeitschriften haben sowas nicht. Die Leute, die ich kenne, eigentlich auch nicht. Wird ihnen auffallen, dass ich das habe? Werden sie mich hässlich finden oder über mich lästern?" So etwas denken wir manchmal schon bevor wir uns überhaupt überlegt haben, ob wir selbst das Körper-Merkmal an uns schön finden oder nicht. Zuerst fragen wir uns, ob es wohl von den anderen akzeptiert wird, und wenn wir glauben, dass nicht, sind wir vielleicht schon deshalb unfroh mit dem Merkmal. Oder? So scheint es mir zumindest manchmal. Warum rasieren wir unsere Körperhaare weg, wenn wir erwachsen werden, und warum wollen wir Falten und graue Haare verstecken und loswerden? Haben wir wirklich darüber reflektiert, ob sie uns selbst missfallen, und warum eigentlich? Oder tun wir das eher wegen der Gesellschaft?
Und ich glaube, ähnlich passiert es auch, wenn wir uns andere Leute anschauen und uns an ihnen etwas Besonderes auffällt. Auch dann kommen uns zum Beispiel Fragen, wie: "Ob seine Mitschüler darüber lachen?"; "Ob sie das weg haben will?" Ein Mensch, der irgendwie anders aussieht, tut uns dann vielleicht leid, weil wir meinen, er würde unter dem Druck der Gesellschaft und ihren Schönheitsvorstellungen leiden. Wenn wir beispielsweise einer korpulenteren Person begegnen, fangen wir an, daran zu zweifeln, ob sie wohl mit ihrem Aussehen zufrieden ist, wenn sie schlanke Models sieht, oder ob andere über sie lästern, auch wenn wir selbst es nicht tun. Diese Gedanken sind manchmal mit die ersten, die uns kommen. Mir ging es ja auch so, als ich das Mädchen und seine Zähne zum ersten Mal gesehen hatte. Und sie können auch dann kommen, wenn wir selbst es bereits geschafft haben, uns von Schönheitsidealen zu lösen, und uns ihretwegen gar kein negatives Urteil über das Aussehen der Person bilden. Oder wenn wir selbst die Person eigentlich hübsch finden. An der Schule meines Bruders war ein Mädchen mit dunkler Haut und dunklen Haaren, aber einzelnen fast weißen Haut-Flecken und Haarsträhnen. Ich hörte Leute sagen: "Ich finde das schön, aber sie wird bestimmt noch große Probleme damit bekommen."
Solche Gedanken sind ein Vorurteil über die Gesellschaft. Leider kein unbegründetes – über das Aussehen anderer wird sehr viel hergezogen. Manche Menschen begleitet das ihr Leben lang: Blicke, Tuscheln hinter ihrem Rücken, und manchmal auch Beschimpfungen. Nur weil sie anders aussehen. Wahrscheinlich haben wir oft leider recht, wenn wir beim Anblick einer Person ahnen, dass ihr diese Dinge widerfahren.
Ich glaube trotzdem, oder auch gerade deshalb: vielleicht sollten wir vorsichtig sein, wenn wir mal wieder eine Person sehen, und uns im ersten Moment nichts anderes über ihr Aussehen einfällt, als dass sie der Gesellschaft eventuell nicht gefällt oder ob sie nicht gerne stärker dem Ideal entsprechen würde. Denn: ist es nicht so, dass wir uns durch solche Gedanken immer wieder an Schönheitsideale erinnern und diese auch weiter in unserem Denken verfestigen? Dass wir den Schönheitsidealen dadurch vielleicht zu viel Aufmerksamkeit geben? Und dass wir mit solchen Gedanken in manchen Situationen vielleicht auch anderen oder uns selbst unterschwellig suggerieren, dass ein abweichendes Aussehen nicht wünschenswert ist? Nicht weil wir es unschön finden, sondern einfach weil wir befürchten, die Gesellschaft tue das? Sollten die Lästereien so viel Raum in unserem Denken bekommen?
Eine befreundete Familie hat vor Kurzem eine rothaarige Tochter bekommen, und praktisch seit ihrer Geburt darüber nachgedacht, ob sie wohl später für ihre Haarfarbe gehänselt wird, und wie sie sie darauf vorbereiten können. Dadurch sind die Haare ein Dauerthema, und immer mit einem unangenehmen Gefühl verbunden. Nicht, weil die Eltern selbst rote Haare unschön fänden, sondern allein weil sie Angst vor der negativen Reaktion der Gesellschaft haben. Natürlich sind diese Sorgen leider berechtigt. Viele Kinder werden wegen irgendetwas Oberflächlichem, und auch wegen roter Haare ausgelacht, über viele Menschen wird wegen Oberflächlichkeiten gelästert, und das kann richtig verletzend sein und sollte natürlich ernst genommen werden. Aber vielleicht ist es gefährlich, wenn Gedanken über potentielles Lästern so viel Raum in unserem Kopf bekommen, dass wir bestimmte Körper-Merkmale irgendwann gar nicht mehr ohne die Assoziation mit Lästern und nicht-dem-Ideal-entsprechen betrachten können. Bei anderen und bei uns selbst.
Denn an sich ist nichts schlecht an roten Haaren, an einem etwas korpulenteren Körper, oder an vorstehenden Schneidezähnen, und das sollte uns auch immer bewusst sein. Ohne Schönheitsideale würden wir nicht denken: "So will man doch nicht aussehen.", und vielleicht sollten wir deshalb den Schönheitsidealen keinen so großen Einfluss auf unser Denken geben. Vielleicht können wir jetzt einfach mal uns selbst anschauen, und versuchen, uns mal ganz unabhängig von allen anderen Leuten, unabhängig von ihren Worten, und unabhängig von den Bildern berühmter Schönheiten fragen: gefällt mir mein Körper? Und wenn mir etwas nicht gefällt, warum eigentlich? Vielleicht doch nur wegen der Idealvorstellungen?
Das sechsjährige Mädchen, das sich vermutlich noch nie für Models interessiert hat und Schönheitsideale noch nicht wirklich kennt, kann seine Zähne ganz unbefangen toll finden, obwohl (oder gerade weil) sie außergewöhnlich sind. Unser Aussehen ist nämlich nie ein Problem, das Problem ist nur, dass es anhand von Idealvorstellungen bewertet wird. "You don't have to change a thing, the world could change it's heart", singt Alessia Cara in dem Lied Scars to your beatutiful. Helfen wir der Welt doch dabei! Wenn jemand etwas Besonderes in seinem Aussehen hat, könnten mir dazu so viel mehr Gedanken kommen als der, dass dieses Aussehen nicht den Idealen der Gesellschaft entspricht und dass es manchen Leuten vielleicht nicht gefällt. Genauso natürlich, wenn ich etwas Besonderes an meinem eigenen Äußeren bemerke. Ich denke, ich muss und sollte auch nicht automatisch davon ausgehen, dass eine besonders aussehende Person sich selbst nicht hübsch findet. Und wenn ein Kind auf seine Eichhörnchen-Zähne vor allem stolz ist, dann ist ihr Anblick für mich doch vielmehr ein Grund zur Mitfreude als für Mitleid, oder?
Wenn ich jetzt überhaupt wieder über ihre Zähne der Kleinen nachdenke, dann habe ich viel weniger die Angst vor lästernden Mitschüler*innen vor Augen, sondern stattdessen stelle ich mir vor, wie es fröhlich Eichhörnchen spielt – genauso, wie sie es selbst auch tut, wenn sie an ihre Zähne denkt. Wenn irgendwann wirklich mal über sie gelästert wird, würde ich ihr natürlich auch zuhören und mein Bestes geben, dass es aufhört und sie nicht darunter leidet. Aber jetzt mag sie ihre Zähne, und deshalb muss ich sie auch nicht mit Leid und Problemen in Verbindung bringen, sondern kann mich einfach über sie freuen – genauso, wie sie selbst! Auch, wenn wir alle so einen Spruch wohl schon oft gehört hat, sage ich nochmal: Ob es um uns selbst geht, oder um andere: Am wichtigsten ist doch nicht die Frage "Was halten die anderen von diesem Aussehen?" Sondern: "Wie gefällt die Person sich selbst?" Und das Erlebnis mit dem Mädchen hat mir irgendwie dabei geholfen, den Spruch wieder aus einer anderen Richtung zu verstehen.
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