Als wir älter wurden, wollten mein Bruder und ich entscheiden, wer von uns der Chef werden soll. Wir sind immer wieder gegeneinander gesprungen, haben getestet, wer der Stärkere ist. Aber keiner wollte aufgeben, und so haben wir immer weiter gekämpft. Die Menschen bekamen wohl Angst, dass wir uns dabei verletzen, und trugen mich irgendwann weg, in einen anderen Bereich. Dort lernte ich neue Hennen kennen, und eine neue Landschaft und einen neuen Schlafplatz. Es war schön und ruhig dort, aber es fehlte etwas. Besonders wenn es Abend wurde, musste ich an meinen Bruder und meine Schwester denken. Ich wusste noch, wo sie wohnten. Das hatte ich mir gemerkt. Ich konnte den Weg dorthin noch finden. Also lief ich hin. Dort angekommen ging ich in die Knie, stieß mich kräftig ab, flatterte, und landete auf dem Zaun. Und auf der anderen Seite wieder herunter. Bald konnte ich die anderen schon sehen, auf der Lehne von einer Bank. Wie früher saßen wir dort noch eine Zeit lang zusammen in der untergehenden Sonne, bevor wir unsere Schlafhäuschen aufsuchten. So ging das an vielen Abenden, immer wieder lief ich bevor es dunkel wurde zu meinen Geschwistern, und morgens mit den Menschen in den neuen Bereich. Mein Bruder und hatten längst aufgehört, zu kämpfen. Irgendwann mussten die Menschen das eingesehen haben, und ließen mich auch tagsüber wieder bei ihm, wo wir jetzt friedlich beisammen wohnten.
Als wir in dieser neuen Umgebung zum ersten Mal die Dunkelheit erlebten, wussten wir nicht, wohin. Es war auf einmal alles so groß und weit. Da haben wir uns einfach zuammengekuschelt in die Wiese gelegt. Wir wussten nicht, wohin wir sonst gehen sollten. Auf einmal war so viel Platz da, und so viele Eindrücke. Das Gras, die Erde, der Wind, und diese langsam kommende Dunkelheit. Es war aufregend und schön, aber so viel. Bevor wir hierher kamen, hatten wir in einem geschlossenen Raum gewohnt. Mit so vielen anderen Hühnern, dass wir uns gar nicht von allen die Gesichter merken konnten. Aber sonst mit fast nichts. Es gab keine Pflanzen und alles war grau. Wir lagen noch nicht lange draußen in der Dunkelheit, als ein Mensch kam und uns nacheinander in ein Häuschen brachte. Dort waren wir kurz nach unserer Ankunft schonmal drin, gewesen aber wir hätten noch nicht dorthin zurückgefunden. Aber es eignete sich gut zum Schlafen, in den folgenden Abenden gingen wir immer dort hinein.
Ich habe in meinem Leben an verschiedenen Orten gewohnt. Einer davon war ein Gelände an einem Hang. Mit zwei anderen Hennen wohnte ich dort zusammen, und außerdem mit vielen Hunden. Zwei Menschen kümmerten sich liebevoll um uns, aber es schien ihren Körpern immer schwerer zu fallen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass eines Tages andere Menschen kamen und uns zusammen mit unseren Menschen einfingen. Wir bekamen natürlich Angst, die sich aber bald auflöste, weil wir wieder freigelassen wurden. Ein anderer großer Garten sollte unser neues Zuhause sein. Hier lernte ich meinen Mann kennen. Von Anfang an schien er auf mich aufmerksam zu sein, und bald wich er mir nicht mehr von der Seite.
Die meisten Hennen interessiert es nicht, mit wem die Hähne so flirten. Aber meine Frau war anders. Sie wollte mich für sich haben, und hat andere Hennen verscheucht, wenn ich mich ihnen annähern wollte. Tja, eigentlich habe ich das ja auch so gemacht und die anderen Männer verjagt, wenn sie ihr zu nah kamen. Hähne machen das häufiger. Aber warum sollen nicht auch Hennen das machen? Sie und ich waren immer zusammen, wir liefen zusammen zum Essen und setzten uns im Stall nebeneinander. Die anderen Hühner bildeten keine Paare, sie trafen sich in Gruppen oder vermischten sich immer wieder. Aber uns gefiel es eben zu Zweit. Ich glaube, unsere Menschen haben so etwas vorher noch nicht gesehen. Leider war meine Frau älter als ich und ist schon vor drei Jahren gestorben. Eine Beziehung wie mit ihr konnte ich seitdem mit keinem anderen Huhn mehr aufbauen.
(Alle Geschichten sind wahr.)
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