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AutorenbildVegallina

Ist es gut (für die Welt), dass ich da bin?

Aktualisiert: 13. Feb. 2021

Ich glaube, manche Leute machen sich schon Sorgen, wenn man so eine Frage überhaupt stellt. Vielleicht haben sie, was mich angeht, sogar recht, und ich befinde mich tatsächlich in einem besorgniserregenden Zustand, das möchte ich nicht ausschließen. Aber vielleicht ist es auch ganz normal, dass man sich diese oder ähnliche Fragen stellt, über den Sinn des (eigenen) Lebens nachdenkt usw. Ich weiß es nicht. Fakt ist: ich stelle mir diese Frage. Schon sehr lange.


Ich glaube, das kam unter anderem so: Als ich älter wurde, habe ich immer mehr davon gesehen, wieviel entsetzliches Leid es auf dieser Welt gibtund wie sehr ich selbst dazu beigetragen habe! Ich ging durch Kleidergeschäfte, in denen ich früher gerne eingekauft hatte, aber auf einmal sah ich dort die Arbeiterinnen sitzen, die in einsturzgefährdeten Gebäuden unzählige Überstunden machen, oder die Männer, die ich aus dem Fernsehen kannte, die Jeans einen Used Look verpassen und deshalb Staublungen bekommen und zum Teil früh sterben. Wenn ich Fleisch gesehen hatte, schaute ich in verängstigte Augen von Schweinen, Hühnern oder Rindern, die mit ihren von Gitterstäben und Spaltenböden verletzten Körpern im Schlachthaus stehen und, während sie die Schreie ihrer Artgenossen hören, immer stärker realisieren, was hier gerade abgeht. Eier sind das, was in Kekse oder Kuchen rein kommt. Nein, auf einmal waren Eier das, was die Schwestern der als Baby geschredderten männlichen Küken in einen überfüllten und unruhigen Stall legen, bis sie es nicht mehr täglich schaffen, und dann, viel zu jung, kopfüber aufgehängt und durch ein elektrisiertes Wasserbad gehängt werden, um zu sterben. Und Milch, Milch kennen wir alle. Milch ist das, was eine Mutter ihrem Baby gibt, um es mit allen Nährstoffen zu versorgen, es zu beruhigen, eine Bindung zu ihm aufzubauen. Außer, wenn dieses Baby ein Kalb ist, denn dann wird es der schreienden Mutter entrissen und teilweise mit einer Palmöl-haltigen Ersatzflüssigkeit gefüttert (1), damit die Menschen seine Muttermilch haben können, bis es, immer noch im Babyalter, geschlachtet oder selbst zu einer "Milchkuh" herangezogen wird. Oder Müll. Wenn ich Verpackungen oder Plastikteile sehe, dann stelle ich mir vor, wie sie im Meer treiben, und wie sie, je nach Größe, im Magen eines toten Vogels gefunden werden oder einer Schildkröte den Hals zuziehen.

Und so weiter, es gibt noch mehr, und wahrscheinlich auch sehr viel, was ich auch heute noch nicht weiß. Und das alles hatte ich unterstützt, jahrelang, mit meinem Geld.


Heißt das nicht, dass ich immer und immer wieder einfach nebenbei zu entsetzlichem Leid beigetragen habe? Folgt daraus nicht, dass ich die Welt verschlechtert habe, jeden Tag? Aus diesen Gründen habe ich meinen Konsum irgendwann geändert, fair oder second hand, vegan, möglichst unverpackt und bio, lieber weniger als mehr, lieber zu Fuß oder mit ÖPNV. Um möglichst wenig dieser Welt und ihren Lebewesen zu schaden.


Aber trotzdem ist es ja nicht so, dass ich jetzt gar keinen Schaden mehr anrichten würde. Ich konsumiere immer noch, ich stoße weniger Treibhausgase aus, aber nicht gar keine mehr. Ich fahre manchmal Auto und nutze elektronische Geräte und vielleicht sterben auch bei der Ernte meiner Bio-Nahrung manchmal wilde Tiere auf den Feldern. Ja, ich tue Dinge, die man als "umweltfreundlich" bezeichnen könnte, aber vielleicht ist diese Bezeichnung genau genommen nicht ganz treffend, denn mein neues Konsumverhalten hilft oder repariert die Umwelt ja nicht, sondern es schadet ihr nur weniger.

Jetzt könne jemand kommen und sagen (und das haben mir auch schon viele gesagt): "Ja, aber irgendetwas musst du doch essen, irgendwie musst du doch leben, es kann ja niemand verlangen, dass du gar nichts mehr machst und verhungerst." Nein, verlangen kann das wahrscheinlich niemand. Nicht von mir und auch von sonst niemandem. Aber mir geht es auch nicht darum, ob es jemand verlangt. Mir geht es einfach nur um das Verhältnis von Wohlergehen und Leid.


Mein Ziel ist Folgendes: ich möchte insgesamt im Leben mehr Freude als Leid in die Welt bringen. Wenn man diese Welt, in der ich lebe, vergleichen würde mit einer Kopie von genau dieser Welt, die identisch zu ihr ist, mit dem einen Unterschied, dass ich in der Kopie nicht existiere: In welcher dieser beiden Welten gibt es dann das größere Allgemeinwohl, also mehr Freude und weniger Leid? Ich möchte so leben, dass es in der Welt, in der ich existiere, größeres Allgemeinwohl gibt als in der Kopie, in der ich nicht existiere.


Das ist das Mindeste. Natürlich soll das Wohlergehen, das ich in die Welt bringe, möglichst groß sein. Mindestens größer als das Leid, aber am liebsten so groß wie möglich.


Wichtig: ich rede hier nur von mir selbst. Ich sage nicht, dass andere dasgleiche Ziel haben sollten oder über ihr eigenes Leben ähnlich denken sollten. Das können sie natürlich, müssen sie aber nicht, und ich denke nicht darüber nach, ob es gut oder schlecht wäre, wenn sie es täten. Es gibt viele Möglichkeiten, seinem eigenen Leben einen Wert beizumessen und viele Ziele, sie man für sein eigenes Leben definieren kann. Auch ich selbst denke über das Leben anderer eigentlich irgendwie anders als über mein eigenes. Das, worüber ich hier spreche, sind nur meine, auf mich selbst bezogenen Gedanken, es ist mein Ziel, und das ist alles, was ich hier erzählen will.


Aber wie erreiche ich es?

Unmöglich zu erreichen ist es nicht, denke ich. Mehr Freude verursachen als Leid. Naja, ich kann Freude und Wohlergehen verursachen, auf verschiedene Weise. Allein schon, indem ich z.B. für meine Freund*innen da bin, meinen Nachbar*innen Dinge ausleihe oder mit vielen anderen kleinen Handlungen.

Aber wie mache ich die Freude möglichst groß und das Leid möglichst klein? Wie mache ich die Freude größer als das Leid?

Eine Möglichkeit ist, wie gesagt, dass ich mich erstmal darauf fokussiere, das von mir verursachte Leiden der Welt zu reduzieren. Dazu gehört, dass ich möglichst Umwelt-, Tier- und Menschen- schonend konsumiere. Eine vegane Lebensweise hat hier übrigens eine sehr große positive Wirkung: sie reduziert nicht nur Tierleid, sondern auch Flächennutzung, Treibhausgase, Wasserverbrauch und vieles mehr, laut einer Oxford-Studie ist sie der eine größte Weg, unseren negativen Einfluss auf die Erde zu verringern (2), und immer noch häufig unterschätzt (3). Vegan zu leben fällt mir auch nicht schwer. Aber es gibt andere Bereiche, in denen es eine echte Abwägung gibt: Womöglich würde ich das Umweltleiden am stärksten reduzieren, wenn ich als Selbstversorgerin leben würde, eigenes Gemüse anbaute, möglichst viel selbst machte, wenig unterwegs wäre und kaum etwas besäße. So würde ich kaum in die Umwelt eingreifen, kaum Ressourcen verbrauchen, kaum Müll hinterlassen, und kaum Leid verursachen. Aber vielleicht würde ich auch nicht so viel Freude verursachen, weil ich eben oft zuhause säße und nicht von vielen Menschen überhaupt gesehen würde, kaum positive Außenwirkung hätte. Zum Beispiel würde all die Zeit, die ich ins Selbermachen stecke, dann für andere Aktivitäten wegfallen. Was bringt der Welt am Ende mehr? Wenn ich Gemüse selbst ziehe und alle Transportwege und Verpackungen spare? Oder wenn ich mein Gemüse kaufe und in der dadurch gewonnenen Zeit eine vegane Veranstaltung organisiere, die vielleicht noch mehr Leute auf den Geschmack von Gemüse bringt und bei der sie sich Informationen über ein veganes Leben holen können, wenn sie wollen? Oder: soll ich meinen alten Computer möglichst lange benutzen (ich sitze übrigens gerade an einem 11-jährigen Laptop, mit kaputtem Bildschirm und kaputtem Lautsprecher), weil ich damit die Umwelt weniger belaste? Oder soll ich einen neuen kaufen, der zwar erstmal neue Ressourcen verbraucht, aber der auch schneller ist, sodass ich mehr arbeiten kann, schreiben, nachhaltige Veranstaltungen organisieren usw., und auf dem auch z.B. mein Videoschnitt-Programm flüssig läuft, sodass ich Filme über Nachhaltigkeit drehen und andere erreichen und mein Wissen teilen kann? Oder: Soll ich beschließen, mir nicht viel aus Geld zu machen, und einen gering bezahlten Job wählen, in dem ich trotzdem alles gebe, um anderen zu helfen und die Welt ganz direkt zu verbessern, als Krankenschwester beispielsweise? Oder soll ich versuchen, möglichst viel Geld zu verdienen, mit einer hohen Position in einem vielleicht sogar nicht ganz umweltfreundlichen Unternehmen, und dann trotzdem sparsam leben? Damit ich nämlich von dem Haufen Geld, das ich verdiene, einen großen Teil spenden kann. Vielleicht könnte ich damit den Einsatz von mehreren Krankenschwestern, z.B. in Krisengebieen finanzieren. Hätte ich dann einen insgesamt größeren positiven Einfluss auf die Welt? Ein Problem dabei wäre wohl die Unsicherheit: was ist, wenn ich versuche, eine wahnsinnig wacklige Karriereleiter hochzuklettern, mit dem Ziel, am Ende viel Geld zum Spenden zu haben oder eine einflussreiche Position in der Politik zu bekommen oder ein Unternehmen zu leiten und es umweltfreundlicher und fairer machen zu können oder dergleichen, aber ich schaffe es nicht? Dann habe ich Jahre in einen Versuch investiert, und am Ende stehe ich vielleicht da, und habe nichts, fast gar keinen Einfluss, und denke mir: Hättest du doch stattdessen einfach früher angefangen mit einer Tätigkeit, die eine weniger große, aber dafür sichere Wirkung hat. Dann hättest Du jetzt schon viele Tage immer wieder die Welt ein bisschen verbessert.


Das ist alles sehr komplex. Vielleicht kann man auch keine dieser Fragen allumfassend beantworten, sondern muss sie im Einzelfall prüfen, auf die einzelne Person mit ihren Eigenschaften abgestimmt. Wenn meine Filme nicht so gut werden, und niemand sie sich anschaut, wird der Umweltschaden des neuen Computers durch sie vielleicht nicht ausgeglichen. Wenn sie aber gut ankommen und viele Menschen informieren und zu einem umweltschonenderen Leben anregen, vielleicht schon. Bestimmt gibt es an vielen Stellen auch Kompromisslösungen. Auch eine Person, die sich die meiste Zeit um ihr eigenes Gemüse oder ihre geretteten Tiere kümmert, kann hin und wieder Außenwirkung haben und andere inspirieren, wenn vielleicht mal die Medien über ihr außergewöhnliches Leben berichten oder sie besucht wird. Denn ich glaube allgemein, das Potenzial, andere zu inspirieren, ist höher, wenn man ein bisschen anders ist.


Eine endgültige Antwort darauf, wie ich so leben kann, dass mein Leben möglichst gut für diese Welt ist, habe ich noch nicht gefunden.

Ich denke, dass diese Frage auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich zu beantworten ist, denn wir alle haben unterschiedliche Talente, Charaktere und Interessen. Für alle gelten unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten dafür, dass wir mit bestimmten Aktionen erfolgreich sind. Und ich denke, es ist auch wichtig, dass wir alle etwas tun, was uns gut liegt und Spaß macht. Denn zum einen erreichen wir damit tendenziell größere Erfolge, und zum anderen bringt es uns selbst mehr Freudeund wenn unser Ziel ist, die Welt glücklich zu machen, dann kommen wir diesem Ziel natürlich auch dadurch näher, dass wir uns selbst glücklich machen.



Falls euch ähnliche Fragen auch interessieren, möchte ich noch auf die Effektiver-Altruismus-Bewegung aufmerksam machen, die für mich in diesem Zusammenhang ein interessante Entdeckung war. Sie ist der Versuch, herauszufinden, wie man mit seinen eigenen Ressourcen (Zeit, Geld, persönliche Eigenschaften etc.) möglichst effizient die Welt verbessern kann, teilweise mit überraschenden Ergebnissen: https://www.effectivealtruism.org/




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Quellen:

(4) https://www.effectivealtruism.org/ (letzter Zugriff: 23.08.20, 13:08 Uhr)

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