Ich kannte mal jemanden, der hatte einen Veganer in seiner Clique. Dieser Veganer hat manchmal über Veganismus und die Tierhaltung gesprochen, auch auf Partys und bei Facebook. Den, den ich kannte, hat das gestört. Andere aus der Clique waren auch davon genervt. Einmal schauten sie zusammen eine Serie und lachten lauthals, als eine Figur darin sagte: "Dem Tierschutzbund sind Menschen egal." Sie wünschten sich, der Veganer wäre jetzt da gewesen und hätte das gehört. Gehört, wie kritikwürdig die Leute doch sind, die ein ähnliches Ziel wir er haben – zumindest nach Meinung einer Zeichentrickfigur. Der, den ich kannte, schrieb auch kritische Kommentare unter die Facebook-Beiträge des Veganers. "Weil er Propaganda postet!" Er fragte ihn, wie er denn wohl seine Ananas in der Stadt angebaut hätte, weil er ja wohl nicht den umweltzerstörenten Transport unterstützte?! Unter ein Tiertransporter-Video schrieb er: "Lasst und die Nutztiere in den Wald werfen!"
Es gibt viele Leute, die mit ähnlichen Kommentaren auf Äußerungen von Veganer*innen reagieren. Natürlich längst nicht alle. Die meisten, die ich bisher getroffen habe, kommentieren den Veganismus anderer gar nicht, einige finden ihn auch interessant oder lobenswert. Aber es fällt auf, dass manche auch gereizt darauf reagieren.
Irgendwann fragte ich den, den ich kannte mal, warum ihn die Beiträge des Veganers so böse machen und er so kommentiert. "Weil mir die Tiere leid tun", sagte er. Er sah traurig aus. Ich war damals eine Vertrauensperson, der Clique gegenüber hätte er wahrscheinlich anders geantwortet.
Vielleicht eine überraschende Antwort, wenn man sein Verhalten dem Veganer gegenüber betrachtet. Aber andererseits ist es überraschend, dass einen die Antwort überrascht. Denn eigentlich ist es nichts Überraschendes, wenn jemand Mitgefühl hat. Es ist normal. Es ist unglaublich normal und menschlich, dass einem misshandelte Tiere leid tun.
Ich denke, eigentlich ist diese Welt voll mit Menschen, die Mitgefühl haben.
Denen man ihr Mitgefühl auch nicht absprechen kann und sollte. Voll mit Menschen, die nicht dazu beitragen möchten, dass ein Tier unnötig leidet. Die sich wahnsinnig ins Zeug legen würden, wenn sie irgendwo ein ertrinkendes Tier sähen, das Hilfe braucht. Voll mit Menschen, die Tiere essen, obwohl sie niemals selbst ein Tier töten könnten und eigentlich auch nicht wollen, dass andere es tun. Auch unter denen, die sich über Veganer*innen lustig machen, sind wahrscheinlich viele davon, glaube ich zumindest. Der, den ich kannte, hat sein Mitgefühl später ernst genommen und ist Vegetarier geworden und hat auch versucht, in Richtung Vegan zu gehen. (Fast) kein Mensch isst Fleisch, weil er Tieren schaden will. "Tiere zu essen ist das unausweichliche Ergebnis eines tief verwurzelten, unterdrückenden Systems. Das Problem liegt nicht in mangelndem Mitgefühl und Einfühlungsvermögen, sondern in dem System, das uns von unserem natürlichen, in uns wohnenden Mitgefühl und Einfühlungsvermögen abtrennt." sagte Melanie Joy, eine Sozialpsychologin.
[Ich zeige hier ein Video von Mercy For Animals. Die Organisation ist allerdings nicht für den Inhalt meiner Webseite verantwortlich.]
Und was passiert dann in einem emphatischen Mensch, wenn er plötzlich erfährt, wie sehr Tiere für das leiden, was er selbst immer gerne gegessen hat? Was passiert in einem, wenn man erfährt, dass wir Fleisch, Milch und Eier für unsere Gesundheit noch nicht einmal brauchen, und mit jedem weiteren Tiergericht ein Leiden unterstützen, dass sogar gänzlich unnötig ist? Und dann sind da noch diese Veganer*innen, die einen sehen und möglicherweise denken: "Wie kannst du nur?" Natürlich kann einen das fertig machen.
So möchte man sich nicht fühlen! Man möchte nicht dafür mitverantwortlich sein, dass Tiere unnötig leiden. Also muss man entweder aufhören, tierliche Produkte zu konsumieren, oder die Gedanken daran verdrängen, oder die Veganer*innen müssen eben unrecht haben.
Das Verdrängen fällt aber schwer, zumindest wenn man mit Leuten konfrontiert ist, die auf tierliches Essen verzichten. Dies sagen auch Psychologen um Brock Bastian (Personality and Social Psychology Bulletin, online). Die Forscher beschäftigten sich damit, wie Menschen mit dem sogenannten Fleisch-Paradoxon zurechtkommen: dem Phänomen, dass viele Leute Steak genießen und gleichzeitig Zuneigung zu Tieren empfinden können. Laut Bastian erscheint es vielen Menschen gerechtfertigt, Tiere zu essen, wenn sie deren geistige Fähigkeiten für gering halten. Dass Schweine z.B. aber sehr schlau sind, können sie so lange gut verdrängen, wie kein Vegetarier neben ihnen sitzt. (1) Sobald sie mit Menschen, die auf Fleisch verzichten, konfrontiert sind, empfinden sie ihren eigenen Konflikt zwischen Tierliebe und Fleischgenuss, und fühlen sich deshalb angegriffen – das legt die Studie zumindest nahe.
Wenn das Verdrängen also nicht gelingt, weil pflanzlich Essende in der Nähe sind, sucht man vielleicht noch nach Gründen, warum die Vegetarier*innen oder Veganer*innen unrecht haben könnten. Warum wir leider doch Fleisch essen müssen, obwohl wir Tiere mögen und manche Tiere auch sehr schlau sind, oder warum es den Tieren gar nicht helfen würde, darauf zu verzichten, beispielsweise. Viele Leute bringen an dieser Stelle Argumente wie "Ich esse auch nur selten Fleisch, und nur von einem Bauernhof in meinem Dorf." oder "Vegan muss man aber schon sehr auf seine Gesundheit achten." oder "Ja, es ist schlimm, was mit den Tieren passiert, aber da müsste die Politik 'was machen, ich kann daran ja sowieso nichts ändern." Vielleicht wollen die Fleisch essenden Leute mit diesen Argumenten nur vor sich selbst und den anderen rechtfertigen, warum sie nichts ändern werden, und möchten auch nicht weiterdiskutieren. Aber wenn beide Seiten dafür offen sind, könnte man an diesem Punkt auch sachlich miteinander weiterreden. Vielleicht wollen sowohl die veganen als auch die fleischessenden Leute wirklich gerne ihre Ernährung so einstellen, wie sie am besten für Tiere, Umwelt und Gesundheit ist, haben aber unterschiedliche Informationen darüber, wie sie zu diesem Zweck aussehen müsste. Also könnten Fleischesser*innen ihr Wissen mit dem der Veganer*innen abgleichen, und sehen, welche Argumente am Ende stärker sind. Das wäre ein wünschenswerter Ablauf.
Leider fällt es aber auf, dass nicht alle Leute auf den Veganismus anderer mit Argumenten und Offenheit reagieren, sondern manche auch einfach darüber lachen oder die Veganer*innen unbegründet so darstellen, als wären sie dumm. Auch wenn die veganen Leute sachlich bleiben oder gar nichts sagen. Oft sieht es man es beispielsweise in sozialen Netzwerken. Ein Bericht mit wissenschaftlichen Belegen über die Umweltprobleme der Fleischwirtschaft oder die Leidensfähigkeit von Fischen bekommt auf Facebook HAHA-Reaktionen und Facepalm-Emojis. Manche bezeichnen Veganismus ohne Begründung als "Esstörung", posten Fleischbilder und machen Witze, online und offline. Das kann ich mir schwer erklären. Manchmal denke ich, vielleicht behandeln diese Leute die Veganer*innen deshalb so, als seien ihre Aussagen wertlos und als hätten sie unrecht, weil sie sich einfach wünschen, dass sie unrecht haben. Denn wenn sie unrecht hätten, würde man als Fleischesser nichts falsch machen. Wenn sie Unrecht hätten, wäre auch das Tierleid gar nicht so groß und unnötig und man müsste sich weniger Sorgen um die Tiere machen. Der Wunsch ist verständlich. Wenn ich als Veganerin über die Tierindustrie spreche, dann wünschte ich auch, ich hätte unrecht, und in Wahrheit wäre das Tierleid gar nicht so groß, wie ich denke. Aber es hilft ja nicht, sich so etwas zu wünschen. Worauf es ankommt, ist ja, wie schädlich die Tierindustrie wirklich ist. Das unfundierte Lächerlich-Machen ist eine weitere Form des Verdrängens. Julia Minson von der Universität Pennsylvania und Benoît Monin von der Universität Stanford versuchten ebenfalls herauszufinden, warum manche Menschen über Veganer*innen oder Vegetarier*innen lachen (Social Psychological and Personality Science, Bd. 3, S. 200, 2012). Fleischesser hätten oft das Gefühl, dass Vegetarier sie moralisch verurteilten, meinen sie, und sie fühlten sich deshalb zu schlechten Menschen degradiert. Und Attacken auf ihr positives Selbstbild würden Menschen abwehren, indem sie Angreifer lächerlich machen. Diese Abwehrreaktionen der Fleisch-essenden könnten sogar dann schon ausgelöst werden, wenn ein fleischlos essender Mensch nur präsent ist und nichts sagt. (1)
Ich kann gut verstehen, dass der Gedanke, dass Veganer*innen einen dafür verurteilen und kritisieren, was man isst, sehr belasten kann, und dass man sich in Gegenwart einer fleischlos essenden Person deshalb vielleicht nicht gut fühlt, weil man nur den Verdacht hat, dass sie einen verurteilen könne.
Wenn man nun also schon den Gedanken, dass es eigentlich auch ohne Tierprodukte geht, nicht mehr ganz verdrängen kann, dann möchte man sich vielleicht wenigstens davor schützen, weiter darüber reden oder nachdenken zu müssen, und man möchte andere davon abhalten, einen selbst zu verurteilen. Man sucht also Gründe dafür, warum es falsch von den Veganer*innen ist, sich damit zu beschäftigen, was andere Leute essen. "Jeder kann essen, was er will. Man sollte niemandem eine bestimmte Ernährungsform aufzwingen.", sagen viele Leute, wenn sie andere über Veganismus sprechen hören. "Veganer*innen sollten einfach leben und leben lassen."
Wäre es wirklich besser, man lebte im Stillen für sich alleine vegan, und es wäre einem egal, was sie andren tun?
Ich denke, die Welt ist auch voll mit veganen Menschen, die Mitgefühl haben. Die niemanden verletzen oder angreifen wollen. Denen es eigentlich wiederstrebt, auszulösen, dass sich jemand unwohl fühlt, wenn man ihn mit diesem Thema konfrontiert. Ich bin eine davon. Ich möchte niemandem ein unangenehmes Gefühl geben, wie die meisten anderen Menschen auch. Generell nicht, und auch nicht wenn ich etwas über Veganismus oder die Tierausbeutung sage. Deshalb lebte ich jahrelang wirklich im Stillen vegan, und habe höchstens wenn ich gefragt wurde darüber gesprochen. Manchmal wünsche ich mir sogar, es wäre wie früher und es wäre mir egal, was die Leute essen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte wie früher unberührt zusehen, wie jemand Geld dafür ausgibt, dass weitere Tiere in Massen gehalten, verstümmelt und getötet werden. Aber dann denke ich: was ist kaputt mit mir, dass ich mir sowas wünsche?? Denn es IST nicht egal, was mit Tieren passiert. Es ist grauenvoll. Und ich weiß, dass es nicht nur mir nicht egal ist. Den Tieren selbst ist es nicht egal. Milliarden von Tieren. Für sie geht es um alles, um ihre Freiheit, ihre Unversehrtheit, ihre Kinder, ihr Leben. Der Umwelt ist es nicht egal. Wir könnten unseren CO2-Fußabdruck stark senken, würden wir Fleisch und Milch weglassen, und 75% weniger Fläche für die Landwirtschaft beanspruchen. Dazu kommen andere Aspekte. Vegane Ernährung sei der eine größte Weg, unseren Einfluss auf die Erde zu verringern, sagt eine neue Oxford-Studie.(2) Aber auch vielen Menschen ist es eigentlich nicht egal, was mit Tieren passiert.
Wenn jemand seinen Hund bei 30°C im Auto einsperrt, würden viele von uns zu dieser Person hingehen und sie darauf ansprechen, dass der Hund leidet, oder sie würden den Hund gleich retten wollen, oder? Manche würden vielleicht auch sauer werden, wenn sie sehen, dass jemand einem Hund so etwas antut. Und Veganer*innen haben gesehen, dass außer manchen Hunden auch Schweine, Rinder, Hühner und viele andere Tiere unfassbar leiden. Nicht nur bei 30°C im Tiertransporter, sondern auch im Stall, aus dem sie kommen, und im Schlachthaus, in das sie fahren. Deshalb wollen sie auch die Leute darauf ansprechen, die diesen Tieren helfen könnten, wenn sie anders handeln. Ist das denn etwas anderes?
Manche Menschen nervt es jedenfalls. Veganer*innen wollen nicht nerven, aber sie finden sich einfach in der unangenehmen Situation, dass egal, was sie machen, vielleicht jemand leidet oder genervt ist: Entweder können sie schweigen, dann bekommen die anderen Leute keine Informationen über die Tierhaltung und werden nicht zum Nachdenken gebracht und dann fördern sie weiterhin, dass Tiere misshandelt werden. Wenn Veganer*innen "leben und leben lassen", wie es ihnen empfohlen wird, dann bedeutet das, dass sie leben und töten lassen. Oder sie können versuchen, darüber zu reden, und zu zeigen, was mit den Tieren passiert und dass wir etwas daran ändern können. Dabei riskieren sie aber, dass die zuhörenden Personen sich angegriffen fühlen. Was soll man denn dann machen?
Am besten wäre es natürlich, wenn weder Tiere leiden, noch Menschen sich angegriffen fühlen würden.
Ich denke, oft müssen sie das eigentlich nicht. Wenn Veganer*innen über Veganismus reden, heißt das nicht, dass sie die Person, die Geld für tierliche Produkte ausgibt, grundsätzlich als Person verurteilen. Manche tun das vielleicht, und vielleicht ist das auch verständlich für jemanden, der Hundehalter*innen verurteilen würde, die ihren Hund bei Hitze ins Auto sperren. Aber längst nicht jeder vegan-Beitrag ist so gemeint. Oft mag man einfach die Tatsache nicht, dass die andere Person Geld für Tierausbeutung bezahlt, aber findet andere Eigentschaften der Person richtig okay oder gut – warum auch nicht? Ich zum Beispiel finde viele Leute eigentlich echt bewundernswert für irgendetwas an ihrer Art, unabhängig davon, was sie essen. (Fast) alle Veganer*innen haben früher selbst Fleisch, Milch und andere tierliche Produkte konsumiert, und können sich daran erinnern, warum sie es damals nicht gelassen haben. Es geht oft nicht um Anschuldigungen oder darum, zu zeigen, wie "gut" man sich selbst findet im Vergleich zu den "anderen".
Die zielführende Frage ist ja auch gar nicht, ob ihr etwas dafür könnt, wie der Umgang mit Tieren ist. Wichtig ist, ob ihr etwas dagegen könnt, dass er so bleibt. Darum geht es. Ich denke, viele wissen einfach nicht, dass sie das können, oder haben resigniert. Oder sie wissen nicht, was für großes und unnötiges Leid den Tieren widerfährt, und kaufen die Produkte deshalb. Dass männliche Eintagsküken geschreddert oder vergast werden, dass Kälber von ihren Müttern getrennt und geschlachtet werden und wie Bio-Höfe oft wirklich aussehen. Ich unterstelle den Leuten nicht, dass sie die Tierquälerei unterstützen, weil es ihnen egal ist, was passiert. Ich denke, vielleicht haben sie einfach noch nicht darüber nachgedacht, und vielleicht wissen sie nicht, wie leicht und gesund es eigentlich ist, tierliche Produkte wegzulassen, und dass es wirklich etwas bewirkt für die Tiere. Gerade deshalb möchte man als Veganer*in ja informieren.
Und darum geht es: ums Informieren und ums Aufmerksam-Machen. Es geht nicht darum, jemandem eine Meinung aufzuzwingen, wie es auch oft heißt. Ich meine, ganz ehrlich: wer von euch ist der Meinung, dass Leben, Freiheit und Unversehrtheit wichtiger sind als fünf Minuten Geschmack? Ich glaube, eigentlich sind viele dieser Meinung, oder? Und um diese Meinung geht es. Wenn ihr diese Meinung schon habt, dann gibt es nicht mehr viel, was Veganer*innen euch überhaupt aufzwingen könnten. Denn man kann ja nur dann jemandem eine Meinung aufzwingen, wenn er diese Meinung selbst noch nicht hat. Und warum heißt es überhaupt "aufzwingen"? Wenn man sagt, Veganismus sei gut, warum heißt es dann manchmal, man zwinge anderen die Meinung auf? Wenn man gesagt hätte, genug zu schlafen sei gut, hätte man die Meinung doch auch nur geäußert, oder? Und was die Veganer*innen sonst noch sagen, ist meist einfach eine Folgerung aus dieser Meinung, die wir fast alle sowieso schon haben. Wenn Tiere für die Nahrungsmittelproduktion leiden und sterben, und man das nicht gut findet und man zwar nicht denselben Geschmack, wohl aber seine Nährstoffe auch ohne Tierprodukte bekommen kann, isst man keine Tierprodukte. Wie gesund das ist oder ob die Tiere wirklich leiden und sterben oder wie das für die Umwelt ist sind Informationen. Dinge, die man empirisch belegen kann, keine persönlichen Meinungen, die man jemandem aufzwingen könnte.(3) Deshalb hat es auch oft nichts mit Überheblichkeit zu tun, wenn man von seinem Veganismus erzählt.
Ich glaube sogar, es ist noch nicht einmal überheblich, wenn man jemanden vom Veganismus überzeugen möchte. Möchten wir nicht (fast) alle manchmal andere von etwas überzeugen, über das wir gerade interessante neue Informationen haben? Wollen wir nicht (fast) alle manchmal andere davon überzeugen, dass irgendein Land ein schöner Urlaubsort ist oder dass sie am besten das Küchengerät der Marke sowieso kaufen oder dass sie ihre Regentonne abdecken sollen, damit keine Tiere hineinfallen, weil wir uns eben über diese Dinge gerade informiert haben oder Erfahrungen damit gemacht haben? Das heißt ja auch nicht, dass wir glauben, alles besser zu wissen, sondern nur, dass wir über ein bestimmtes Thema gerade Wissen gesammelt haben. Genauso haben Veganer*innen erfahren und erlebt, dass sogenannte Nutztiere oft sehr leiden und wir Fleisch, Milch und Eier für eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung nicht brauchen. Sie haben das selbst auch noch nicht immer gewusst.
Und... wenn man mal so darüber nachdenkt... findet ihr nicht auch, dass das eigentlich eine wunderschöne Erkenntnis ist? "Wir brauchen keine Tiere zu misshandeln und zu töten, um gesund zu leben." Ist das nicht eigentlich eine der beruhigendsten und schönsten Nachrichten, die man überhaupt bekommen kann? Ist es nicht super erfreulich, das zu wissen? Gerade wenn man Tiere gern hat und anderen eigentlich nicht schaden möchte? Ich habe neulich einen Bericht gehört, in dem eine studierte Philosophin, die auf einem Gnadenhof arbeitet, von Gesprächen mit Landwirt*innen erzählt. Diese würden manchmal so etwas sagen, wie: "Eigentlich... ich liebe Kühe, warum muss ich sie immer töten?" Sie täten das, weil sie so aufgewachsen sind, und meinen, man macht das so, man muss das so machen, das haben wir immer schon so gemacht, sagt die Philosophin. Und manche seien noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass man das hinterfragen und etwas ändern darf (4), obwohl es ihnen vielleicht leid tut. Und dann ist es wunderschön und erleichternd für sie, zu erkennen, dass sie damit aufhören können. Wäre es also nicht vielleicht sogar schade, niemand darüber reden würde, und man es nie erfahren würde?
Vielleicht sollten wir einfach alle erstmal davon ausgehen, dass unsere Gegenüber Mitgefühl haben und eigentlich so wenig wie möglich anderen schaden wollen, sei es den Tieren und sei es den Menschen, mit denen sie reden.
Es geht doch um die Informationen, um die Tiere, um die Umwelt, um die Gesundheit. Es geht um das, was uns eigentlich (fast) alle verbindet: unsere Welt, unsere menschliche Empathie, die Liebe zu Tieren, und der Wunsch nach eigenem Wohlbefinden. Ich glaube, wir haben eigentlich (fast) alle bestimmte ähnliche Ziele: wir möchten, dass es uns selbst und der Welt gut geht, und wir möchten so wenig wie möglich uns selbst oder anderen schaden. Darum geht es fast allen.
Es geht auch nicht um die Veganer*innen. Ob jemand am Ende weiterhin Tiere isst, betrifft die Veganer*innen nicht, und es betrifft auch nicht die Omnis, die einen vielleicht komisch anschauen, wenn man tierliches Essen auf einmal weglässt. Die Menschen, mit denen wir diskutieren, werden im Endeffekt kaum darunter leiden oder davon profitieren, was wir essen. Zumindest im Vergleich zu den betroffenen Tieren, der Umwelt, den Menschen zukünftiger Generationen und vielleicht auch uns selbst, weil unsere Gesundheit ja daran hängt. Für letztere hängt sehr viel davon ab, ihre Lebensumstände, ihre Unversehrtheit, und ihr Leben selbst. Diesen gegenüber muss man sich rechtfertigen, nicht den Veganer*innen gegenüber und nicht den Omnivoren gegenüber. Alle können sich, nachdem sie darüber informiert sind, wo das Essen herkommt und was es anrichtet, selbst fragen: Was spricht für mich fürs Fleischessen und was dagegen? Und wie stark sind diese Argumente? Wiegen der Geschmack von Fleisch/Fisch/Milch/Eiern und meine Gewohnheit und Bequemlichkeit schwerer als das Leid der Tiere und der Umwelt? Gehört es zu meiner Natur, dass ich so leben will, dass ich Tiere töte, wenn ich nicht muss? Wenn ich ein Lamm sehe, sagt mein Gefühl dann „oh, wie süß“ oder „lecker Fleisch“? Wäre ich bereit, auf meine Vitamin B12-Zufuhr besonders zu achten, und dafür mein Risiko, an Herzkrankheiten, Diabetes Typ 2, Krebs oder anderen Krankheiten zu leiden, zu verringern, und Tieren und Umwelt zu helfen? (5) Die Antwort darauf ist man genau denen schuldig, die sie betrifft.
(3) Anmerkung: Ich habe das moralische Statement, dass fünf Minuten Genuss kein lebenslanges Leid rechtfertigen, hier als Meinung bezeichnet. Es gibt auch viele, die das leugnen würde, und die sagen würden, dass so etwas objektiv gilt. Dem gegenüber bin ich eigentlich auch nicht abgeneigt. Ich wollte in meinem Argument einfach den Leuten entgegenkommen, die sagen, Moral sei subjektiv. Denn auch das sagen viele, wenn sie gegen den Veganismus argumentieren, und ich wollte einfach die Frage stellen: selbst, wenn Moral subjektiv ist, ist lebenslanges Leid für 5 Minuten Genuss denn nach eurer subjektiven Moral in Ordnung?
Caldwell B. Esselstyn: Essen gegen Herzinfakt. Das revolutionäre Ernährungskonzept. Stuttgart, 2015.
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